Als in Gau-Algesheim 1905 aufgrund steigender Schülerzahlen Überlegungen zu einem Schul-Neubau begannen, erwiesen die Stadtherren Weitsicht. Sie erwarben nicht nur ein großes Grundstück an der Stadtgrenze, sondern planten das neue Schulgebäude (heute: Christian-Erbach-Realschule plus Gau-Algesheim) auch sehr großzügig. Zudem konnten sie einen zukunftsweisenden Architekt beauftragen: Hans Baptist Becker. Der Leiter der Landesbaugewerkschule in Büdingen (Hessen) und späterer Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt war einer der führenden Vertreter des Darmstädter Jugendstils und der Reformarchitektur. Sein Augenmerk galt den Schulgebäuden, die ganz im Sinne des Jugendstils dem Menschen dienen sollten.

Funktional und großzügig
Becker legte bei der Planung seiner Schulgebäude großen Wert auf funktionale und großzügige Gestaltung, eine ansprechende Einrichtung und moderne Ausstattung. So wurden die Schulräume bereits für eine doppelt so große Schülerzahl ausgelegt und die Ausstattung war nach pädagogischen und hygienischen Gesichtspunkten vorbildlich.
Im Hauptgebäude gab es zehn Klassenräume, jeweils 64 m² groß, die entsprechend ausgestattet zur jener Zeit Platz für je 80 Schüler boten. Untereinander verbunden waren die Schulräume über großzügig dimensionierte Flure und Treppenaufgänge. In Anbauten fanden sich die Schuldienerwohnung sowie Lehrertoiletten, Lehrerwaschraum, Schülertoiletten.

Bau-Fakten

Eine Bietergemeinschaft mehrerer Gau-Algesheimer Meisterbetriebe setzte den Neubau in nur 12 Monaten um. Das Baumaterial kam vom Mainzer Berg. Der Schulbau kostete 110.000 Goldmark. Die Einweihung war am 19. Mai 1910.

Die Schule, ein Kunstwerk?
Blicken wir zunächst auf das wuchtige, ausladende Walmdach. Es präsentiert sich im typischen Darmstädter Jugendstil – aufwändige Dachlandschaften, viele eingebaute Giebel. Nicht zu vergessen der Dachreiter, der noch heute in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten ist. Achteckig, mit mit einer sogenannten Welschen Haube, diente er vorrangig der Durchlüftung des Hauses.
Die Fassade zeigt ein aufwändige Sockelgestaltung aus bossierenden Steinquadern sowie eine vorgezogene, von Pfeilern flankierte Portalvorhalle mit Freitreppe. An der Tür im Haupteingang ist noch ein Teil der geschnitzten Jugendstilornamentik erhalten.
Im Flur und Treppenhaus finden sich abgesetzte Rundbögen, die ursprünglich mit Jugendstilelementen bemalt waren. Eine Gesamtgestaltung, die großzügig, natürlich und harmonisch wirkt.
Leider ist durch die Kriege und wechselnde Nutzung ein Teil der Jugendstilelemente verschwunden. Als perfektes Beispiel dieser Kunstepoche hat sich derTrinkbrunnen im Treppenhaus erhalten. Er sorgte für ein angenehmes Raumklima und die Durchlüftung des Hauses und zierte das Gebäude.
Man sieht die Liebe des Architekten zu kleinen Details (z.B. Ornamentik) und sein Bestreben, das Gebäude als Gesamtkunstwerk, quasi aus einem Guss, zu konzipieren.
So schreibt Dieter Krienke in seiner Denkmaltopographie zu Recht: „Das Erscheinungsbild, noch vom Stilempfinden des Jugendstils und einer neoklassizistischen Färbung geprägt, bereichern bodenständige Motive im Sinne des Heimatschutzstils.“

Darmstadt und der Jugendstil
1900. Jahrhundertwende: Mit der Industrialisierung und dem technischen Fortschritt ging auch der Jugendstil einher. Junge Künstler und Architekten empfanden diese Kunstrichtung als ein neues Lebensgefühl, das sich nicht nur aller Möglichkeiten künstlerischen und kunsthandwerklichen Schaffens bediente, sondern auch der Industrialisierung und der „Entseelung“ der Arbeit entgegenwirkte.
Den Grundstein zu dieser Entwicklung legte die „arts and crafts“-Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts in England – und hier kommt der Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868-1937) ins Spiel. Während den Besuchen bei seiner Großmutter Königin Victoria lernt er die „arts and craft“-Bewegung kennen. Ernst-Ludwig ist begeistert und bringt die Ideen mit nach Hessen!
In den folgenden Jahren sollte er Darmstadt zu einem führenden Zentrum des Jugendstils machen. In der Künstlerkolonie Mathildenhöhe wirken Jugendstilkünstler wie Joseph Maria Olbrich + Peter Behrens. Den Darmstädter Jugendstil, auch Heimatstil oder Heimatschutzstil genannt, kann man als eine regionale Ausprägung des Jugendstils betrachten.
Seine Besonderheiten: es werden nur heimische Baumaterialien (rheinhessischer Sandstein, rheinischer Schiefer etc.) verbaut, die Gebäude fügen sich harmonisch in ihre Umgebung ein. Von außen sind sie zu erkennen an ihren geschwungenen Dachlinien und zahlreichen Giebeln, innen finden sich vielfach florale Ornamente.
Der Darmstädter Jugendstil beeinflusste sehr stark die hiesige Industriearchitektur und die Bauarchitektur öffentlicher und konfessioneller Gebäude. Ein Bauboom zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgte in Rheinhessen für die Errichtung zahlreicher Gebäude im Jugendstil: Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Schulen und Kirchen.