Man schreibt das Jahr 1923. Für stolze 14 Millionen Mark wechselt ein Halb-Stück-Fass Wein (600 Liter) den Besitzer. Verkäufer ist das Ockenheimer Weingut Merz. Grund für den horrenden Preis ist freilich nicht allein die Weinqualität, sondern vor allem die Inflation. Die Preissteigerung galoppiert. Zu Beginn der Weinlese des Jahres 1923 beträgt der Tageslohn einer Leserin noch 400 Millionen Mark, zwei Wochen später liegt er schon bei unglaublichen 300 Milliarden. Die Währungskapriolen machen den Menschen in Rheinhessen schwer zu schaffen. Nachzulesen ist dies in einem Tagebuch der Ockenheimer Winzersfrau Anna Merz, in dem sie Lebens- und Arbeitsbedingungen unter französischer Besatzung beschrieben hat.
200 Jahre Weingut Merz spiegeln rheinhessische Geschichte
Die Tagebucheintragungen aus den Jahren 1923 bis 1925 sind eine von zahlreichen Quellen für die aktuelle Sonderausstellung im Ockenheimer Heimatmuseum. „200 Jahre Rheinhessen im Spiegel eines Weinguts“ ist der Titel der Präsentation, für die die ehrenamtliche Museumsleiterin Barbara Jordans verantwortlich ist. Am Beispiel des Ockenheimer Weinguts Merz spannt die Historikerin den Bogen von den Kindertagen der Region Rheinhessen bis in die Gegenwart.
Mit ihrem neunköpfigen Helferteam hat Barbara Jordans eine repräsentative Auswahl zusammengestellt. Zu sehen sind Plakate mit Fotos und Texten, alte Dokumente, aber auch Maschinen und Arbeitsgeräte, die im Weinbau zum Einsatz kamen. Darunter historische Oechslewaagen, eine Traubenmühle, eine Motorspritze oder eine Weinversandkiste aus Holz, in der Flaschen in Strohhülsen verpackt auf Reisen geschickt wurden. Die Exponate vermitteln sehr anschaulich, wie sich die Arbeit in Wingert und Keller mit den Jahren entwickelt hat, wie man früher Rebenzucht und Schädlingsbekämpfung betrieb, wie gewirtschaftet und wie der Wein vermarktet wurde.
Alltag der Landbevölkerung
Die Sonderausstellung erlaubt zudem einen Blick auf das ganz alltägliche Leben der Menschen in Rheinhessen, wozu auch das Tagebuch der Anna Merz einen wertvollen Beitrag leistet. „Es ist ein Glücksfall, dass im Familienarchiv so viele Dokumente erhalten waren“, erklärt Barbara Jordans, weshalb sich das Weingut Merz als Forschungsobjekt geradezu angeboten hat. Im Fundus schlummerten Kaufverträge, Versteigerungslisten oder Zeichnungen zum Rebschnitt ebenso wie Notizbücher, Erntetabellen und nicht zuletzt ein altes Gutsbuch, das der Betriebsgründer vor mehr als 180 Jahren angelegt hatte. Peter Philipp Phildius war ein wohlhabender Mainzer Bürger, der 1833 für 5.900 Gulden Weinberge, Kelterhaus und Keller in Ockenheim erwarb. Es war die Geburtsstunde des heutigen Weinguts Merz.
Gutsbuch dokumentiert Wetter und Erträge
In seinem Gutsbuch hielt Phildius alle relevanten Daten fest – beispielsweise wie die Familien, die das Weingut für ihn bewirtschafteten, vergütet wurden, oder wie Frost und Schädlinge die Erträge schmälerten. Eine wahre Fundgrube für Barbara Jordans, die insgesamt zwei Jahre lang an dem Projekt gearbeitet und im Zuge der Recherchen auch viele Gespräche mit Karl und Lyslotte Merz, den heutigen Inhabern, geführt hatte. Aufbereitet hat die Historikerin das Material indes nicht nur für die Ausstellung, sondern auch für eine begleitende Publikation mit mehr als 250 Seiten.
„Die Ausstellung beschränkt sich nicht auf die Geschichte des Weinguts Merz“, betont die Museumsleiterin. Der Familienbetrieb liefere vielmehr den roten Faden. Ergänzt wird die Präsentation durch Leihgaben und Informationen weiterer Weinbaubetriebe sowie Objekte aus der Dauerausstellung. Außerdem ist eine Wanderausstellung des „Instituts für Geschichtliche Landeskunde“ integriert, die mit großformatigen Schautafeln einen Überblick über die 200-jährige Geschichte Rheinhessens gibt.
Sonderführungen ab sechs Personen nach Vereinbarung (Barbara Jordans, Barbara-Jordans@web.de, Telefon: 06725/9985132 oder Annerose Förster-Müller, afmockenheim@t-online.de, Tel. 06725/5001).
Begleitband zur Ausstellung: Barbara Jordans, „200 Jahre Rheinhessen im Spiegel eines Weingutes“, hrsg. von der Carl-Brilmayer-Gesellschaft Gau-Algesheim, 2015.