Eine Stadt ertasten, sie erforschen, mit den Händen räumlich erobern. Das ist seit einigen Jahren geben in Ingelheim möglich. Im Rosengärtchen an der Burgkirche und am Nordflügel der Kaiserpfalz geben zwei Bronzetastmodelle aus der Werkstatt des Bildhauers Egbert Broerken interessierten Besuchern historische Einblicke. Ein Tastmodell ist eine dreidimensionale, vereinfachte Nachbildung von Bauwerken. Mit Hilfe eines Tastmodells können blinde und sehbehinderte Menschen Formen und Strukturen von Gebäuden ertasten oder einen Stadtplan „be“-greifen. Meist finden sich auf den Modellen zur weiteren Erläuterung noch Schriftzüge in Braille-Schrift.
„Wenn blinde Mitbürger zum ersten Mal ihre Stadt befühlen, deren Mauern sie zwar berühren, deren Dimensionen sie aber nie begreifen konnten, so ist es für sie eine ganz neue Erfahrung“, weiß Egbert Broerken, der die beiden Ingelheimer Tastmodelle entworfen und gestaltet hat.
In Zusammenarbeit mit Sehbehinderten kristallisierte der Künstler die Spezifikationen für Tastmodelle heraus. Ein Tastmodell sollte kompakt sein und sich idealerweise mit beiden Händen begreifen lassen, damit Sehbehinderte einen Eindruck vom Gesamtensemble bekommt. Damit der Tastende den Überblick behält, dürfen die Modelle einerseits nicht so detailliert sein, sollen aber spezifische Details explizit herausstellen und tastbar machen, beispielsweise die Form eines Kirchturms oder einer Häuserzeile.
Tastbare Sehenswürdigkeiten
So bieten „tastbare“ Modelle blinden und sehbehinderten Menschen eine neue Möglichkeit, eine Sehenswürdigkeit oder eine Stadt zu erleben und sich eine Vorstellung von Bauwerken und Stadträumen zu machen.
Aber auch normal sehenden Menschen, insbesondere Kindern, profitieren von den Tastmodellen. Im Rahmen von Stadtführungen lassen sich mit Hilfe eines ertastbaren Modells räumliche Beziehungen von Gebäuden und Stadtgeschichte den Menschen näher bringen.
Zwei Bronzetastmodelle in Ingelheim
Als im Jahre 2014 der Nordflügel der Ingelheimer Kaiserpfalz – ein 75 Meter langer und 6 Meter hoher zum Rhein hin gelegener Gebäudetrakt – denkmaltouristisch erschlossen wurde, platziert man dort ein barrierefreies Bronzetastmodell. Es veranschaulicht Sehbehinderten und Sehenden gleichermaßen das Nebeneinander von mittelalterlichem Denkmal und neuzeitlicher Wohnbebauung im Kaiserpfalzgebiet. Hierfür wurde mit verschiedenen ertastbaren Oberflächenstrukturen und Höhenniveaus gearbeitet. Das Modell des Künstlers Egbert Broerken soll Besuchern, die sich der Kaiserpfalz vom Parkplatz in der Natalie-von-Harder-Straße nähern, erste Orientierung bieten und den Gästeführern als wertvolle Ergänzung der Führungen dienen. Das Tastmodell ist 1 x 1,20 Meter groß und wurde im Maßstab 1:200 umgesetzt.
Bereits 2011 fertigte Egbert Broerken ein Tastmodell für Ober-Ingelheim. Es steht im Rosengärtchen (an der Burgkirche) und zeigt Ober-Ingelheim um 1800. Es ist ein Bronzemodell im Maßstab 1:500, das auf Initiative des Vereins Pro Ingelheim dort aufgestellt wurde.